Offenes Atelier 2023
Am 6. Mai und 7. Mai 2023 beteiligte ich mich an den Brandenburger Ateliertagen mit Arbeiten zur Familie Mohtadi.
Leyla Mohtadi schreibt:
"Als wir im Januar 1985 nach Deutschland flüchteten, nahmen meine Eltern nur das Nötigste mit: Musikkassetten und Fotos unserer Familie. Ungewiss wie es weitergehen würde, waren dies die geretteten Zeugnisse unserer Vergangenheit, unseres Lebens in Kurdistan.
Oft blätterten wir in den Fotoalben und meine Eltern erklärten meiner Schwester und mir, wer die Personen auf den Aufnahmen sind. Heute denke ich, dass ich ohne diese Bilder nicht denselben engen Bezug zu meiner Familiengeschichte und meinen Wurzeln hätte aufbauen können. Es sind Bilder, die meine Ahnen und die turbulente Zeit vor und nach der islamischen Revolution zeigen. Die Aufnahmen sind sowohl im Iran, als auch im Irak entstanden und zeugen davon, dass wir ständig auf der Flucht waren – denn als Kurden waren wir weder Anhänger des Shah, noch der islamischen Republik. Die Bilder spiegeln auch das unterschiedliche politische Bewusstsein meiner zwei Familienhälften wieder.Anhand der Fotografien lässt sich erschließen, ob es sich um die väterliche oder mütterliche Seite meiner Familie handelt. Meine Familie väterlicherseits war schon immer sehr politisch engagiert, auf den Bildern sind häufig Peshmerga (kurdische Freiheitskämpfer) oder Waffen zu sehen. Die Familie meiner Mutter hingegen hielt sich weitestgehend aus politischen Themen raus.
Wie stark diese Bilder mein Erinnern beeinflusst haben, zeigte sich bei meiner ersten – und bisher einzigen – Iran-Reise 2015. Als wir von Tabriz Richtung Mahabad, der Heimatstadt
meiner Mutter, fuhren und ich die Berge sah, die so bezeichnend für die kurdische Region sind, erschien mir alles sehr vertraut. Obwohl ich keine tatsächliche Erinnerung habe, war
es so, als würde ich nach Hause kommen.Es war ein überwältigender und ausgesprochen emotionaler Moment, der mir sehr deutlich vor Augen führte, dass ich zwei Kulturen und
zwei Regionen als meine Heimat betrachte: Deutschland und Kurdistan. Man wird aus mir weder den deutschen, noch den kurdischen Aspekt meines Wesens tilgen können – beides
ist untrennbar in mir verwoben.
Ernst hat mich mehrmals gefragt, ob es tatsächlich kein Problem darstellt, dass er diese privaten, bisher nur einem überschaubaren Kreis vorbehaltenen Bilder für seinen künstlerischen Prozess als Vorlage nutzt. Für mich hat seine Arbeit den Fotos eine neue Wertigkeit und Ausstrahlung gegeben und sie einem völlig neuen Publikum zugänglich gemacht. Die Aufmerksamkeit, die Ernst den Fotografien meiner Familie schenkt, würdigt die Originale. Die Werke, die er aus Ihnen erschaffen hat, berühren mich sehr. Obwohl er meine Familiengeschichte nicht teilt und auch nicht aus unserer Region stammt, hat er sich mit den Fotos und den Hintergründen intensiv auseinandergesetzt und eine ganze Serie an Büchern und Bildern erschaffen. Es ist schwer in Worte zu fassen, wie viel mir das bedeutet. Unsere Geschichten bleiben oft im Verborgen, ungeteilt, persönlich. Meiner Geschichte wurde durch Ernst Raum gegeben. Er lässt andere Menschen an ihr teilhaben, indem er sie auf seine Weise erzählt. Und sie hätte nicht schöner erzählt werden können."